Dienstag, 12. Juni 2007

Wortsalat Deluxe


Montag, 11. Juni 2007

testcard #16

Die neue Testcard setzt sich provokativ zwischen die Stühle und wiedereröffnet geschlossen geglaubte Diskurse

»Der Mann legt los. Er nimmt einen kleinen Plastikbeutel zur Hand und verpasst sich damit einen Einlauf, den er vorher aus Blut, Milch und Urin zusammengemixt hat. Er furzt diesen Einlauf wieder aus, er spritzt den rauen, dreckigen Betonboden damit voll, einige Zuschauer kriegen ein paar Spritzer ab. Der kleine Mann leckt die Mixtur vom Boden auf.«

Das geht noch einige Zeit so weiter und schildert eine Kunstaktion der Aktionsgruppe Coum Transmissions, deren Mitglieder wenig später die epochemachende Band Throbbing Gristle gründen werden. Selten lässt sich die Entstehung eines ganzen Musikgenres so strikt an eine Band binden wie Industrial an Throbbing Gristle gebunden war und ist. Dabei wollte das Quartett gar keine Musik machen und erst recht distanzierte man sich von dem, was ihre Epigonen später unter Industrial verstanden. Bei der Gründung wurde beschlossen, dass ein jeder das Instrument spielen soll, das ihm am wenigsten liegt. Damit gingen TG also noch einen gehörigen Schritt weiter als das DIY-Jeder-kann-alles-machen-Prinzip des Punk: Nicht mal drei Akkorde sind nötig um Entsetzen auszulösen.

Florian Sievers Geschichte von Throbbing Gristle, die nach ihrer Reunion dieses Jahr ihr erstes reguläres Album seit 27 Jahren veröffentlichen werden, ist in der neuen Ausgabe »Extremismus« des Magazins testcard nachzulesen. Die testcard erscheint seit nunmehr 12 Jahren im Mainzer Off-Verlag Ventil und beschäftigt sich, jeweils unter einem Schwerpunktthema stehend, zweimal jährlich mit den Auswüchsen der »Kulturindustrie« (das adorno’sche Lieblingswort der Herausgeber und Autoren) in Deutschland und anderswo. Aus einer dezidiert linken, ab und an akademischen Position heraus werden dort mit schöner Zuverlässigkeit untergründige Politik mit den Oberflächenwelten des Pop verschränkt und geschaut, was dabei heraus kommt, wenn man im Jahre 2 nach Schröder Kultur auch weiterhin nicht im sozialdemokratischen Sinne versteht, dabei das Scheitern von popkulturellen Subversionsstrategien dennoch unübersehbar ist.

Die aktuelle Ausgabe (Editorial und Inhaltsverzeichnis) könnte zu keiner besseren Zeit erscheinen. Die unter dem Deckmantel der Terrorismus- und Extremismus-Bekämpfung stattfindenden weltweiten Beschränkungen von Bürgerrechten, der vorauseilende Gehorsam von Kulturschaffenden wie bei den vorzeitig abgesetzten Idomeneo-Aufführungen, die wiedererwachten Geister der RAF, über all dem steht damoklesschwertgleich drohend der Begriff des Extremismus. Was dabei kaum gefragt wird: Was ist Extremismus? Wo ist er gesellschaftlich und kulturell einzuordnen? Und: Warum ist der Begriff des Extremismus (ebenso wie der der Radikalität) auf einmal tatsächlich nur noch negativ konnotiert?

Martin Büsser zeigt in seinem Text über die »Verwurzelung ›extremer‹ Musik in der bürgerlichen Kultur« auf, dass das Prinzip des Extremistischen keineswegs nur als Bollwerk des Bösen verstanden werden sollte, sondern vielmehr historisch auch als Katalysator von kulturellen (und damit: gesellschaftlichen) Umbrüchen gelten kann. Susanna Nierdemayr beschreibt Grenzerfahrungen beim körperlichen Erfahren von Musik durch einen nach Oswald Wiener konstruierten Bioadapter. Ein Text aus dem Nachlaß der vor drei Jahren verstorbenen Tine Plesch setzt sich mit dem Gendertrouble Billy Tiptons auseinander, die/der, als Frau geboren wurde und als männlicher Jazzbandleader Ruhm erfuhr.

Weitere Texte befassen sich mit der Skandalgeschichte der Musik, der Sex-Pistols-Nachfolgeband PIL, der medialen Punkrezeption im muffigen 70er-Jahre-Deutschland, dem existenzialistischen Kino des Regisseurs Bruno Dumont und mit Werner Herzogs Dokumentarfilm »Grizzly Man«. Außerdem findet sich in der aktuellen testcard ein Gespräch mit dem enfant terrible der jungen deutschen Kunst Jonathan Meese und ein Interview mit dem Regisseur der Dokumentation »American Hardcore«.

Alexander Vieß



testcard #16: Extremismus

304 Seiten

15,5 x 23 cm

Broschur, mit zahlr. Abb.

EUR 14,50 (D) / sFr 26,20

Ventil Verlag

April 2007

ISBN 978-3-931555-16-3E

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